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"Ich bin ein Zweifler"

Von Nadine Albach

„Das ist ein Abend über Kapitalismus, über Religion, über Tod, vielleicht ist es auch ein Abend über die Liebe und die Kunst“, sagt Schauspieldirektor Kay Voges über „Das goldene Zeitalter“. Er könnte auch sagen: Es ist ein Abend über alles, das den Menschen existentiell berührt. Kay Voges und Alexander Kerlin haben ein  radikal anderes Theaterstück geschaffen, ohne Anfang und Ende, mit Live-Regie und neun Stunden Textmaterial als Grundlage, aus dem die Schauspieler jedes Mal etwas anderes entstehen lassen. Einblicke in diese Stückwelt liefert die Dokumentation „Wenn Gott die Wiederholung nicht gewollt hätte“, die ab sofort online zu sehen ist – kurz bevor das Stück unter dem Titel „the return of DAS GOLDENE ZEITALTER - 100 neue Wege dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“ ab dem 27. Februar fortgesetzt wird. Im Interview spricht Kay Voges über die Grundlagen des menschlichen Lebens, den freien Willen und seine Beziehung zum Christentum.

 Foto: Birgit Hupfeld

Foto: Birgit Hupfeld

Sie beschreiben in dem Film, wie Sie beim Milchkaufen an der Kasse die Beobachtung gemacht haben, dass sich das menschliche Leben aus ständigen Wiederholungen zusammensetzt. Ist das nicht eine Erkenntnis, an der man zugrunde gehen kann –gerade als Künstler?

Ja, das ist schon frustrierend – und stellt die ganze Kunst in Frage. Wir erzählen im Theater die ganz großen Geschichten – aber im Alltag sind die Geschichten oft nicht so groß. Mein Leben ist nicht so aufregend wie ein Hollywood-Film, sondern von unglaublich vielen Wiederholungen gekennzeichnet. Außerdem setzt so etwas wie eine Materialermüdung ein: Unser Körper wird immer älter. Diesen Gedanken wollten wir nachgehen. In dem Stück geht ein Mensch eine Treppe runter, fährt mit einem Aufzug hoch,  geht die Treppe runter, fährt hoch – immer und immer wieder. Aber trotzdem ist es nicht das Gleiche. Es tut sich etwas. Die Zeit verändert den Vorgang, sie richtet etwas an. Das muss man nicht negativ sehen, sondern kann darin auch eine eigene Schönheit entdecken – die von Wiederholung und Variation. Bei einem Kind freuen wir uns über dessen Veränderung – bei uns selbst nehmen wir verärgert wahr, dass unser Körper altert. Letztlich geht es aber doch um die Frage, wie wir die Veränderung interpretieren.

 

Welche Reaktionen gab es auf das Stück?

Dazu gibt es eine schöne Geschichte: Eine ältere Dame verließ nach anderthalb Stunden das Theater, kam dann wieder und war enttäuscht, dass das Stück schon vorbei war. Sie fragte mich, wie es denn ausgegangen sei und als ich antwortete, dass es kein Ende gab, wollte sie wissen, warum ich das denn gemacht hätte. Sie und ihr Mann seien sich einig, dass sie das mit der Wiederholung im Leben doch längst alles wissen würden. Aber sie hätten jetzt beschlossen, ab sofort die angestammten Plätze im Theater zu tauschen und auch mal zu einem anderen Bäcker zu gehen. Da habe ich zu ihr gesagt: Wenn das Stück das ausgelöst hat, ist doch alles wunderbar.

 

Bewusstsein für den Trott

 

Gibt es für den Menschen also einen Ausweg aus der Wiederholungsschleife?

Zumindest können wir ein Bewusstsein dafür entwickeln, in welchem Trott wir uns befinden – und haben so die Möglichkeit, frei zu entscheiden, dass wir die Wiederholungen durchbrechen wollen. Ich denke, in dieser Bewusstwerdung liegt ein großes Glück.

 

Wenn aber doch alles Wiederholung ist, gibt es dann einen freien Willen?

Das beantwortet der Abend nicht, weil ich auch keine Antwort darauf habe. Natürlich stecken wir in einem System und müssen bestimmte Dinge regelmäßig tun um weiterzuleben: Wir müssen essen, trinken, vielleicht auch arbeiten. Und wenn wir nicht wollen, dass unser Herz schlägt, ist der einzige Weg sich umzubringen.

 

Wie erzählen wir heute Geschichten?

 

Sie haben aus der Beschäftigung mit diesen Fragen auch den Schluss gezogen, einen radikal anderen Theaterabend ohne Anfang und Ende und ohne konventionelle Dramaturgie zu machen. Was hat diese Form von Theater mit Ihnen gemacht – wie blicken Sie jetzt auf Theater?

Das ist eine Möglichkeit, das Leben einzufangen – aber es gibt auch andere. Das ist sicher nicht das Ende der narrativen Erzählung im Theater. Aber die Frage ist schon: Wie erzählen wir heute Geschichten – in einer Zeit, in der wir Milch kaufen gehen, Freunde treffen und dazwischen erfahren, dass Menschen in Saudi-Arabien ausgepeitscht werden und die Tante in Australien Krebs hat? Wir geben unserem Kind am Frühstückstisch etwas zu essen und lesen dabei in der Zeitung von einer Stadt, die ausgebombt wurde. Wir sehnen uns zwar nach einer zusammenhängenden Narration. Aber unser Leben wird von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bestimmt, mit großer Massivität: Durch die sozialen Netzwerke und die Vielzahl der Medien haben wir die ganze Welt am Küchentisch. Können wir lernen, damit umzugehen – oder ziehen wir uns auf uns selbst zurück und tun so, als würde all das nicht geschehen?

 

Sie haben Søren Kierkegaards Zitat als Untertitel gewählt: „Wenn Gott die Wiederholung nicht gewollt hätte, hätte er die Welt nicht geschaffen“. Warum?

Kierkegaard sieht die Wiederholung als höchstes Gut. All das, was permanent Verwandlung sein muss, verliert seiner Ansicht nach an Qualität. Wir haben das Zitat ausgewählt, weil wir uns viel mit der Frage der Identität beschäftigen. Wer bin ich? Muss ich ein Facebook-Profil haben und ständig Selfies posten, um der Welt meine Einmaligkeit zu präsentieren – während genau dieses Verhalten dafür sorgt, dass unendlich viele Daten über mich gesammelt werden und ich in einer Schublade mit Millionen anderen lande? Die Frage ist ja, wo ich Individuum bin – denn genetisch bin ich nur eine Wiederholung des Materials meiner Eltern. Gerade als Künstler beschäftige ich mich damit, ob mein Schaffen meinem Genie entspringt – oder nur ein Remix aus dem ist, was ich an Kunst gesehen habe. Selbst Goethe hat den Begriff der Originalität in Frage gestellt und darauf verwiesen, dass ohne seine Vordenker nicht viel von ihm übrig bliebe.

 

Nicht alles am Originalitäts-Anspruch messen

 

Ist das nicht ein erschreckender Gedanke für einen Künstler?

Nein, der Gedanke ist vielleicht sogar befreiend. Ich muss nicht alles, was ich tue, am Originalitäts-Anspruch messen. Meine Identität erwächst nicht daraus, dass ich einen Gedanken habe, den sonst kein anderer hat.

 

Sie sagen in dem Film, dass es auch ein Stück über Religion ist – inwiefern?

Wir arbeiten viel mit biblischen Motiven. Zum Beispiel wird das Geschlechterregister aus der Genesis zitiert. Wenn man sich das minutenlang anhört, erlebt man eine unendliche Wiederholungsschleife. Natürlich kommt da die Sinnfrage auf. Der Kapitalismus sagt uns: Ihr müsst permanent wachsen. Der Buddhismus sagt, es geht um das Sein. Was sind meine Paradigmen? Der Abend stellt Fragen, auf die der Zuschauer für sich selbst Antworten suchen kann. Es gibt eine Szene mit Adam und Eva, in der sie ihn permanent auffordert, vom Baum der Erkenntnis zu essen – und er weigert sich. Der Moment der Erkenntnis käme erst zustande, wenn beide aus der Wiederholungsschleife ausbrechen. Es ist aber auch ein Spiel mit der Frage, was geschehen wäre, wenn Eva tatsächlich nie in den Apfel gebissen hätte: Vielleicht gäbe es dann nur Natur und Tiere - und eines davon, irgendwo dazwischen, wäre der Mensch.

 

Die Bibel ist für mich ein kostbares Buch

 

Sind die Texte aus der Bibel für Sie Material wie jedes andere auch?

Die Bibel ist für mich ein kostbares Buch, weil es mich und mein Denken unwahrscheinlich geprägt hat. Ich muss mich immer wieder daran reiben. Wie viel von meinem Denken und Verhalten ist davon beeinflusst? Wo zweifle ich diese Prägung an – wo gehört sie zu meinen Grundpfeilern? Die Bibel liefert unendlich viel Material, um sich mit den Leben und den eigenen Wertmaßstäben auseinanderzusetzen. Ich hasse sie. Aber wenn wir uns mit biblischen Sachen beschäftigen, beschäftigen wir uns letztlich damit, wie wir leben, wie wir miteinander umgehen, wo wir hin wollen.

 

Kommt man an der Bibel also bei existentiellen Fragen nicht vorbei?

In meiner Geschichte ist sie eine wesentliche Vorlage – ich lebe nun mal im christlichen Abendland. Aber sicher gibt es auch Menschen, die eher Karl Marx Kapital auf dem Nachttisch liegen hatten.

 

„Das Goldene Zeitalter“ heißt auch ein Film von Buñuel, der sich gegen das Bürgertum und die christliche Moral wandte. Es gibt ein Zitat von Buñuel dazu: : „Die bürgerliche Moral ist für mich Unmoral, die man bekämpfen muss; diese Moral, die sich auf unsere äußerst ungerechten sozialen Institutionen wie Religion, Vaterland, Familie, Kultur gründet, überhaupt, was man so die Pfeiler der Gesellschaft nennt.“ Fühlen Sie sich Bunuel im Geiste verwandt?

Insofern, als dass ich eine ähnliche Liebe und einen ähnlichen Hass zur christlichen Religion empfinde wie Buñuel. Das ist eine tiefe Prägung – und eine wahrscheinlich ein Leben lang andauernde Auseinandersetzung. Ich könnte die Frage, ob ich gläubig bin, nicht beantworten. Ich bin ein Zweifler. Dieser Standpunkt des Nicht-Wissens, des Suchens, ist wirklich wichtig für mich. Wenn man zweifelt, muss man alles in Frage stellen dürfen, muss Gewissheiten erschüttern, Pfeiler zum Einsturz bringen und schauen, was übrig bleibt: Folgen wir dem System wirklich bewusst – oder begeben wir uns einfach nur auf ausgetretene Pfade? Viele Krisen auf der Welt sind im Glauben begründet: Der eine glaubt dies, der andere das – schon gibt es Krieg. Wenn jeder zum Beispiel in Israel und Palästina ein bisschen mehr anzweifeln würde, ob sein Standpunkt richtig ist, kämen wir dem Frieden sicher einen großen Schritt näher.

 

Hier der Link zur Online-Dokumentation.

Hier der Link zum Schauspiel.

 Foto-Credit TeaserBild: ©Edi Szekely

 

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