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"Ein Bild ist immer auch eine Inszenierung"

„Man geht nicht nur bloß ins Kino, um sich Filme anzusehen. Man geht vielmehr ins Kino, um mit zweihundert Menschen zu lachen und zu weinen.“ US-Autor John Naisbitt bringt es auf den Punkt: Filmbilder treffen uns existentiell, sie rütteln auf, sie erschüttern, sie berühren. Für Bilder wie diese setzt sich das Internationale Frauenfilmfestival Dortmund | Köln ein: Seit 1987 zeigt es historische und aktuelle Filme von Frauen – diesmal vom 14. bis zum 19. April mit dem Themenschwerpunkt „Komfort“. Im Interview spricht Festivalleiterin Silke J. Räbiger über die Macht der bewegten Bilder und die Rolle des Geschlechts beim Filmemachen.

Festivalleiterin Silke J. Räbiger (IFFF Dortmund | Köln © Guido Schiefer)

 

„Kinofilme sind so ein wichtiger Teil unseres Lebens, dass man sich eine Welt ohne sie nicht vorstellen kann“, schreiben David Bordwell und Kristin Thompson in ihrem Grundlagenwerk „Film Art“. Warum glauben Sie, ist Film so wichtig für die Menschen?

Filme eröffnen einen emotionalen Zugang zum Menschen. Ich denke an die spezielle Situation im Kino: Der dunkle Raum, die große Leinwand – da kann man regelrecht in das Bild eintauchen. Auch die Musik spielt dabei eine große Rolle, weil sie unser Unterbewusstsein erreicht; das ist wissenschaftlich erwiesen. Ich habe es selbst erlebt, als ich als Jugendliche Hitchcocks „Die Vögel“ gesehen habe: Ich konnte mir den Film nie wieder ansehen, weil ich ihn so gruselig fand. Die Musik und die Bilder haben mich unmittelbar erreicht. Außerdem darf man nicht vergessen, dass wir alle mit Kino und Fernsehen sozialisiert wurden – so, wie früher Menschen mit Literatur. Deswegen ist eine Welt ohne Film für uns undenkbar.

 

Was glauben Sie können Filme Menschen geben?

Es ist wie mit jeder Kunst: Filme werfen ein Thema auf und reflektieren es auf subjektive Weise. Aber im Film können wir uns im besten Fall mit dem Protagonisten identifizieren, in ein anderes Leben schlüpfen und es probeweise miterleben. Bei Dokumentarfilmen ist das besonders stark, weil uns bewusst ist, dass wir echte Menschen sehen. Wir erleben hautnah ihre Geschichte mit, von der wir sonst vielleicht nie erfahren hätten.

 

Bei den besten Filmen fühlt man mit

 

Ist Film also das Medium der Empathie?

Das kommt natürlich auf den Film an. Gerade bei einer gelungenen Dokumentation kann das aber so sein. Ein guter Regisseur geht empathisch mit seinen Hauptfiguren um. Aber letztlich sind auch die Spielfilme die besten, bei denen wir mit den Figuren mitfühlen können.

 

Filme können aber auch etwas als Realität ausgeben, was nicht real ist: Sind Sie als Manipulationsinstrument gefährlicher als jede andere Kunstform?

Klar! Wir erleben gerade leuchtende Beispiele wie den Mittelfinger von Varoufakis, dem griechischen Finanzminister. In der Politik wurden schon früher unliebsame Menschen aus Fotografien entfernt – das ist im Film nun erst recht möglich. Ganze Filme entstehen, an denen nichts mehr real ist. Und wir als Zuschauer sind zunehmend nicht mehr in der Lage, das wirklich unterscheiden zu können. Die Möglichkeiten der Manipulation sind gewaltig.

 

Glanz und Glitter nur auf dem roten Teppich

 

Hat der Film also unsere Vorstellung von Realität umgeworfen?

Auf jeden Fall. Ich erinnere mich an ein persönliches Erlebnis, als ich auf dem Filmfestival in Cannes war und das Defilee auf dem roten Teppich erlebt habe. Ich habe mir diesen Marsch in der Live-Übertragung auf dem Bildschirm angesehen, habe ihn mir vom Pressebalkon angeschaut – und draußen, hinter den Journalisten. Jedes Mal sah ich ein anderes Bild. Ich fand sehr faszinierend, wie extrem unterschiedlich die Eindrücke waren: Das, was mir durch die Kamerabilder vermittelt wurde, war etwas völlig anderes als das, was ich leibhaftig gesehen habe. Glanz und Glitter gab es nur auf dem roten Teppich, zwei Meter weiter stand man in einer Schmuddelecke. Die mediale Aufbereitung war weit weg von der Realität. Ein Bild ist immer auch eine Inszenierung.

 

Sie engagieren sich schon sehr lange für den Film – warum?

Mein erster Ansatz war natürlich das Frauenfilmfestival – und das Anliegen, die Sache der Frauen zu vertiefen. Ich hatte schon immer einen guten visuellen Zugang zu den Dingen, das hilft sicherlich. Eigentlich habe ich Literatur studiert – aber Film hat mich immer fasziniert.

 

Warum?

Weil man in einen guten Film regelrecht eintauchen kann. Zum Beispiel zeigen wir im Wettbewerb „Still the Water“ von der Japanerin Naomi Kawase. Eigentlich ist es eine Coming-of-Age-Geschichte, in der es aber sehr stark um Tod und Verlust geht. Die Regisseurin erzählt in unsentimentalen, großartigen Bildern voller meditativer Momente – darin kann man richtig schwelgen. Und obwohl die eigentliche Geschichte weit weg von einem selbst ist, wird man mit Fragen nach eigenen Verlusten, seinem Zurechtfinden in der Welt und der Suche nach sich selbst konfrontiert.

 

Durch Zuspitzung entsteht auch Klarheit

 

Der diesjährige Festival-Schwerpunkt „Komfort“ widmet sich Themen wie der wachsenden Schere von Arm und Reich sowie dem steigenden Konsum. Glauben Sie, Film hat die Aufgabe, gesellschaftlich aufzurütteln – oder die besondere Gabe?

Ich glaube schon. Film hat die Möglichkeit, zuzuspitzen und zu inszenieren. Wir zeigen zum Beispiel „The Trace of the Butterfly“ von Amal Ramsis, in dem es um die Revolution in Kairo geht. Die Regisseurin begleitet eine junge Frau, die bei einem Aufstand ihren Bruder verloren hat. Sie hat die Wirklichkeit also auf einen Ausschnitt, eine Perspektive zugespitzt. Natürlich könnte man diskutieren, ob das eine Manipulation der Realität ist. Ich finde aber, dass durch die Zuspitzung auch eine Klarheit entsteht, die zur Grundlage für eine Diskussion werden kann. Filme wie diese können aufrütteln – und gleichzeitig gut konsumiert werden.

 

Spielt das Geschlecht denn eine Rolle beim Filmemachen?

Unter ästhetischen Gesichtspunkten eher nicht: Frauen können genauso gut oder schlecht inszenieren wie Männer. Aber Frauen haben oftmals einen anderen Zugang zu Themen oder bringen andere Themen auf. Auffällig ist, dass in Filmen von Frauen auch häufiger Frauen als Protagonistinnen auftauchen. Vermutlich, weil Frauen sich besser in andere Frauen hineinfühlen können.

 

Gleichberechtigung im Filmgeschäft wird heftig diskutiert

 

Für die Berlinale ist ein Kurzfilm mit dem Titel „Women Make Great Films“ entstanden, auf den Sie auf der Festivalseite verweisen. Ist es nicht traurig, dass man das extra sagen muss?

Ja, aber man muss es noch. Als wir in den 1980er Jahren mit dem Festival „femme totale“ angefangen haben, dachten wir, dass es wahrscheinlich bald ein Auslaufmodell ist. In den 1990ern mussten wir erkennen, dass dem keinesfalls so ist. Die Frage von Gleichberechtigung im Filmgeschäft wird auch aktuell in Deutschland heftig diskutiert: Die Initiative „ProQuote Regie“, in der sich über 300 Regisseurinnen zusammengetan haben, hat auf der diesjährigen Berlinale für großen Furor gesorgt.

 

Es geht also nicht um die Frage der Ästhetik, sondern um Diskriminierung im Produktionsprozess?

Genau. „ProQuote“ spricht auch von einem Arbeitskampf um die Gelder. Es muss dringend konkrete Schritte geben, damit Frauen gleiche Chancen auf dem Filmmarkt haben und andere Themen in die Kinos bringen können.

 

Das Internationale Frauenfilmfestival läuft vom 14. bis 19. April in Dortmund. Das Programmheft können Sie hier herunterladen.

Die im Interview erwähnten Filme können Sie an folgenden Terminen sehen:

 

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