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Einen zweiten Blick wagen

Von Uwe Bitzel

Ein Eierbecher mit den Überresten des Frühstückseis nimmt die dominierende Bildmitte des Fotos ein. Es ist sorgsam und schön komponiert mit den Brosamen des Brötchens auf dem Teller und der Kerze im Hintergrund auf blau-weißer Tischdecke. Trotzdem ist das Motiv banal. Oder vielleicht doch nicht?

Ein Bild aus der Ausstellung "Sichten auf Schichten". (Foto & Text: Jürgen Evert)

 

17 solcher Fotografien präsentiert seit Ende August die Lüner Stadtkirche St. Georg. Sie stammen von Jürgen Evert, pensionierter Stadtentwicklungsplaner und Beigeordneter. Evert fotografiert seit seiner Jugend. Vor einigen Jahren hatte die Stadtkirche bereits seine Ausstellung „PressClearWaitChange“ über die Gentrifizierung am Phoenixsee gezeigt. Seine aktuelle Ausstellung fokussiert auf ein anderes Thema. Sie greift fotografische Alltagseindrücke auf wie das genannte Frühstücksei, Kartoffelschalen auf einer Zeitungsdoppelseite, einen Garagenhof, eine warm angeleuchtete Telefonzelle im kühlen Blau der beginnenden Nacht. Man könnte mit der Schulter zucken und all diese Fotos als trivial abtun oder auch einen zweiten Blick wagen. Eine andere Sicht einnehmen auf die gezeigte oberflächliche Schicht der Wirklichkeit. „Sichten auf Schichten“ heißt deshalb auch die Ausstellung.

Die Reise eines Frühstückseis


Evert selbst bietet Deutungen an für eine solche zweite oder gar dritte Sicht auf die gezeigten Dinge:  So habe vielleicht die Reise des Frühstückseis auf einer münsterländischen Hühnerfarm begonnen. Ortsnahe landwirtschaftliche Produktion. Doch ohne die importierte kolumbianische Kohle wäre aus dem Ei kein Frühstücksei geworden. „Evert bietet einen politische Text an“, so Staatsminister a.D. Wolfram Kuschke bei der Laudatio zur Ausstellungseröffnung. Dem Verweis auf die Importkohle könne sich die Frage nach der künftigen Energiepolitik anschließen. „Schlagen doch die Fotos von Evert“, ergänzte Pfarrerin Anja Bunkus, „immer eine feine unsichtbare Brücke zwischen den Welten, zwischen der Welt und der Kirche, zwischen der Alltagswelt und dem, was sich dahinter noch verbirgt.“


Angebote und eigene Antworten


Everts Deutungen seiner Fotografien sind Angebote für den Betrachter. Der kann auch eine andere, seine eigene, Antwort auf die Frage finden, was hinter der sichtbaren Oberfläche der Dinge steckt, die wir für die Wirklichkeit halten. Apropos Wirklichkeit: Everts Ausstellung macht auch deutlich, dass Fotografien, trotz ihres Eindrucks der Unbestechlichkeit, eben nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern sie nur so zeigen, wie sie der Fotograf interpretiert.

„Hinter der Oberfläche der fotografierte Alltagswelt könnte es unsichtbare oder nicht mehr sichtbare Wirklichkeiten gegeben haben, könnten Taten und Handlungen, Vergessenes oder Verdrängtes gestanden haben, die das Abgebildete zu dem haben werden lassen, das die Fotografie zeigt“, soweit der Kommentar von Evert.  Er hat sich übrigens lange gegen diese Ausstellungen gesträubt, weil er Zweifel daran hatte, dass das Thema der Wahrnehmung irgendwen interessiert. Jetzt ist er froh, dass es die Ausstellung doch gibt. Und der gut besuchte Gottesdienst mit der gut besuchten Vernissage gibt ihm Recht.

Bis Anfang Oktober ist „Sichten auf Schichten“ noch in St. Georg zu sehen. Die Finissage ist am 5. Oktober um 19 Uhr. Dann hält Prof. Dr. Barbara Welzel von der TU Dortmund einen Vortrag zu „Calvinismus und Bildersturm“.

Weitere Informationen auf der Homepage von St. Georg Lünen bzw. auf der Seite von Jürgen Evert.

 

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