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Bildung für alle - noch immer ein hehres Ziel

Von Nadine Albach

„Lernst Du wohl, wirst Du gebratener Hühner voll. Lernst Du übel, mußt Du mit der Sau zum Kübel.“ Martin Luther wusste, dass Bildung die Tür zu einem selbstbestimmten Leben ist - und setzte sich vehement dafür ein, dass sie jedem offen steht. Die Reformation als Bildungsbewegung nimmt Professor Dr. Hans-Martin Lübking auch mit Blick auf die Gegenwart unter die Lupe – in seinem Vortrag „Luther, die Reformation und die Bildung der Deutschen: ››Soll man zulassen, dass lauter Flegel und Grobiane regieren? ‹‹" am 10. September im Melanchthon-Gemeindezentrum. Im Interview zeigt er, was für eine Revolution damals angestoßen wurde – und fragt kritisch, was heute davon übrig geblieben ist bzw. wie die Bildungsdiskussion zu dem gegenwärtigen Bild von Kirche passt.

Prof. Dr. Hans-Martin Lübking. (Foto: Dirk Purz / Pädagogisches Institut der EKvW)

 

War Martin Luther der erste Feminist? Er wollte schließlich Bildung für alle...

Das ist natürlich ein moderner Begriff, den man nicht auf Luther übertragen kann. Aber Sie haben recht: Luther ist der erste gewesen, der öffentlich Schulbildung für Mädchen forderte. Das gab es zuvor nicht. Durch die Reformation mit ihrer Forderung nach Bildung für alle gab es tatsächlich erste Ansätze von Schulen für Mädchen – wohlgemerkt nicht koedukativ, sondern nach Geschlechtern getrennt. Es gab ein unteres und ein höheres Schulwesen und die Erziehung der Mädchen fand eher auf der unteren Stufe, in Dorfschulen, statt. Die Mädchen aus höher gestellten Familien sind im ersten Jahrhundert nach der Reformation besser von der katholischen Kirche mit ihren Ordensschulen bedient worden. Bis sich das höhere Schulwesen mit den Lateinschulen für Mädchen öffnete, hat es lange gedauert.

 

Warum hat sich Luther überhaupt so dafür eingesetzt, dass jeder zur Schule gehen sollte – welches Menschenbild steckt dahinter?

Es gibt ein schönes Zitat von Luther, dass seine Idee auf den Punkt bringt: „Gott will’s nicht haben, dass geborene Könige, Fürsten, Herren und Adel sollen allein regieren und Herren sein, er will auch seine Bettler dabeihaben, sie dächten sonst, die edele Geburt macht alleine Herren und Regenten und nicht Gott alleine.“ Luther war überzeugt, dass jeder Mensch mit der gleichen Würde geboren wurde und in der Lage sein sollte, das Evangelium selbständig zu verstehen. Interessant ist außerdem, dass er 1524 – bevor er verheiratet war und Nachwuchs hatte – schrieb: Wenn er Kinder hätte, müssten diese nicht nur die Sprachen und Naturwissenschaften erlernen, sondern umfassend gebildet werden, zum Beispiel in Musik und Kunst, um später jeden Beruf ergreifen zu können.

Bibel als größter Bucherfolg deutscher Geschichte

 

Das ist ja der spannende Punkt: Luther zielte nicht nur auf die religiöse Ertüchtigung, sondern  verfolgte einen umfassenden Bildungsansatz. Damit muss er doch auf großen Widerstand gestoßen sein: Haben nicht zum Beispiel Vertreter der Kirche gefürchtet, dass gebildete Menschen ihre Lehren in Frage stellen?

Vor der Reformation wurde von katholischer Seite tatsächlich vor dem Lesen der Bibel gewarnt: Es verführe zu eigenen Gedanken, zum kritischen Hinterfragen der Kirche, kurzum zu Ketzerei. Luther hingegen wollte das ändern und jeden in die Lage versetzen, die Bibel zu lesen. Seine Bibelübersetzung ist bis heute der größte Bucherfolg der deutschen Geschichte. Die Bibel wurde zu einem kritischen Gegenüber der Kirche: Die Menschen konnten einem Prediger plötzlich entgegenhalten, dass es in der Bibel anders steht, als dieser verkündet hat.

 

Aber wie konnte Luther sich gesellschaftlich durchsetzen?

Er hat sich in seiner wichtigsten Schulschrift bewusst an die Ratsherren der christlichen Städte gewandt – nicht an die Fürsten, weil er die für dumm und vergnügungssüchtig hielt. Den Ratsherren traute er zu, seinen Bildungsansatz umzusetzen, weil bereits eine gewisse Bildungs-Infrastruktur in den Städten existierte und er unterstellte, dass sie ein Interesse an gut ausgebildeten Leuten für ihre Verwaltung haben müssten. Das war strategisch klug.

 

Waren die Ratsherren dafür offen?

Ja, die Schulimpulse Luther und Melanchthons waren enorm erfolgreich: Ende des 16. Jahrhunderts gibt es in den protestantischen Territorien etwa 100 Schulordnungen für ganze Regionen, die genau beschreiben, was an den Schulen unterrichtet werden soll und wie sie ausgestattet sein sollen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein gab es einen, auch auf katholischer Seite  unbestrittenen, protestantischen Bildungsvorsprung in Deutschland. Angestoßen durch die Reformation, die auch zur Folge hatte, dass Schule zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde und sich eine allgemeine Schulpflicht etablierte.

 

Bildung für alle verfehlt

 

Machen wir den Sprung in die Gegenwart: Wären Luther und Melanchthon mit dem heutigen Bildungswesen zufrieden?

Nein. Das Ziel einer „Bildung für alle“ wäre aus ihrer Perspektive nicht erreicht: das dezidiert gegliederte Schulwesen sowie die geringe Finanzausstattung des Bildungswesens sprechen dagegen. Zudem hätte Luther und Melanchthon sicher nicht erfreut, dass Bildung in der „Normalbevölkerung“ eine geringe Rolle spielt.

Ist uns also der Luxus zu wenig bewusst, den wir in Bezug auf Bildung im Vergleich zu der Situation vor 500 Jahren haben?

In der Tat. Das merkt man allein daran, wenn man ein weniger entwickeltes Land als Deutschland besucht wie etwa die afrikanischen Länder: Bildung hat dort einen viel höheren Stellenwert. Machen wir uns nichts vor: Solange sie eine Schule besuchen, hat Bildung  für Schülerinnen und Schüler selbst noch keine große Bedeutung – das Bewusstsein dafür kommt häufig erst hinterher.

 

Wie kommt die Kirche da ins Spiel: Welche Rolle kann sie in Sachen Bildung heute noch spielen?

Eine mehrfache. Die Schulen in kirchlicher Trägerschaft müssen sich der Idee der „Bildung für alle“ verpflichtet fühlen und als Vorreiter zeigen, wie das geht. Glücklicherweise gibt es seit 1996 eine kirchliche Reformschule, die in ganz NRW bekannt ist: die evangelische Gesamtschule in Gelsenkirchen, in der ich Vorsitzender des Beirats bin. Dort wird beispielhaft gezeigt, wie Bildung für alle funktionieren kann: Zum Beispiel gibt es dort trotz der Trägerschaft viele muslimische Schüler. Delegationen  aus dem ganzen Bundesgebiet kommen, um sich anzuschauen, wie das Modell funktioniert. Kirche kann durch Beispiel wie diese zeigen, was sie unter Bildung versteht.

 

Starkes Bild für Integration

 

Was macht die Gelsenkirchener Schule denn anders?

Das fängt schon bei dem Gebäude an, dass die Schüler zu einem erheblichen Teil mit gebaut haben. Deswegen gab es bisher noch kein einziges Graffiti. In der Mensa kochen die Eltern mit. Wenn einem eine muslimische Mutter mit Kopftuch das Essen gibt, ist das ein starkes Bild für Integration. Und so könnte ich weitermachen. Die Schule hat in vielen Dingen eine Vorreiterrolle und schneidet auch bei allen Leistungsvergleichen gut ab.

Was kann Kirche jenseits eigener Bildungseinrichtungen tun?

Die Kirche kann sich einmischen: 2009 zum Beispiel haben wir uns viel Ärger mit der damaligen Landesregierung eingehandelt, weil wir deutlich gesagt haben, dass das damalige Schulsystem nicht unseren Vorstellungen entspricht. Kirche muss auch mal mutig sein und den Mund aufmachen. Sie kann mitwirken – zum Beispiel in den Ganztagsschulen, in denen die Kirche die Nachmittagsbetreuung mit übernehmen könnte. Wir brauchen flächendeckend Ganztagsschulen, um die jetzigen Probleme zu lösen.

 

Aber passt es überhaupt zum heutigen Bild von Kirche, dass sie sich in die Debatte um Bildung einmischt?

Nach den letzten repräsentativen Mitgliedschaftsbefragungen sind Bildung und Erziehung die Bereiche, in denen Menschen eine deutliche Aktivität der Kirche erwarten und schätzen. Es gibt zum Beispiel das Phänomen, dass Eltern kirchlichen Kindergärten mehr vertrauen als kommunalen. Kirchliche Schulen boomen: In Westfalen haben wir zwar nur sieben – in anderen Landeskirchen gibt es aber deutlich mehr. Und viele Eltern melden ihre Kinder dort an.

 

Kirche gewinnt durch Engagement im Bildungswesen

 

Also ist es auch aus Sicht der Kirche sinnvoll, sich noch stärker im Bildungsbereich zu engagieren, um das eigene Image zu verbessern?

Durch Engagement im Bildungswesen kann die Kirche selbst nur gewinnen. Der Religionsunterricht etwa wird häufig unterschätzt: Er erreicht über 90 Prozent eines Jahrgangs über viele Jahre hinweg. Das schafft kein Gottesdienst.

 

Zur Person: Prof. Dr. Hans-Martin Lübking (Jg. 1948) aus Dortmund war 17 Jahre lang Direktor des Pädagogischen Instituts der Ev. Kirche von Westfalen und ist seit 2001 Honorarprofessor an der Uni Münster.

 

Termin: Prof. Lübking hält den Vortrag „Luther, die Reformation und die Bildung der Deutschen:
››Soll man zulassen, dass lauter Flegel und Grobiane regieren? ‹‹“ am Donnerstag, 10. September, 19 Uhr.  Ev. Kirchengemeinde St. Reinoldi, Bezirk Melanchthon, Gemeindezentrum, Melanchthonstr. 6, 44143 Dortmund.

 

 

 

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