Interviews & Artikel

„Auf unscheinbaren Oberflächen Spuren lesen…“

Hommage an Siegfried Kracauer (1889-1966)

Beweggründe für die Ausstellung „Sichten auf Schichten“  - ein Gastbeitrag von  Jürgen Evert, Lünen

Der Fotograf Jürgen Evert (Foto: Petra Klimek)

Der Hinweis auf eine „Oberfläche“ suggeriert, dass etwas darunter ist. Das vorangestellte Eigenschaftswort „unscheinbar“ bezeichnet bereits das Geheimnisvolle und Verborgene, das noch nicht von der Oberfläche angezeigt wird und auf seine Entdeckung wartet. In seinen „Straßentexten“ hat Siegfried Kracauer als Flaneur in Berlin kurze prägnante Beobachtungen zusammengetragen und anhand von Alltagsbegebenheiten und –gegenständen Aussagen über Zeit und Gesellschaft  gemacht -  ähnlich wie 70 Jahre später Karl Schlögel Fahrpläne, Adressbücher, Landkarten und Grundrisse in seinem Buch „Im Raume lesen wir die Zeit“ zum Sprechen brachte. Die „Botschaft der Dinge“  und das Kreisen um die Frage, welche Wirklichkeit von Fotografien dargestellt wird und was diese Bilder mit uns machen, waren  Beweggründe  für eine Foto- und Textarbeit, die mich von 2011 bis heute beschäftigt und die zu einem vorläufigen Ergebnis in der Ausstellung „Sichten auf Schichten“ geführt hat.

Verbindung von Realität und Vergangenheit

Den Kern der Fotografie sieht Roland Barthes in der Verbindung aus Realität und Vergangenheit: Wesen und Sinngehalt der Fotografie besteht in dem Gedankeninhalt des Satzes „Es-ist-so-gewesen.“ Barthes ist dabei nie an der Oberfläche des Dargestellten geblieben und hat sein ganzes Leben damit verbracht, Codes  zu dechiffrieren: „Mythen des Alltags“- „Die Sprache der Mode“ – „Fragmente einer Sprache der Liebe“. In einer Fotografie allerdings sieht er aufgrund ihrer automatischen Genese eine Botschaft ohne Code: sie repräsentiert Existenz („Index“), sagt aber noch nichts über den Sinn und die Bedeutung („Semantik“). Hier ist die Frage zu stellen, ob die Annahme einer „automatischen Genese“ stimmt oder ob nicht gerade die zeitliche und räumliche Ausschnitthaftigkeit der Fotografie, zusammen mit den technischen Einflussmöglichkeiten des Fotografen und seiner „Bildidee“  semantischen Charakter besitzt - insbesondere wenn sie jenseits der Oberfläche sich der Frage nähert „ Was steckt hinter der sichtbaren Oberfläche der Dinge, die wir für Wirklichkeit halten?!“  Das war die Frage, die Kracauers Bemerkung „Auf unscheinbaren Oberflächen Spuren lesen…“ ausgelöst hat und die hinter der Ausstellung „Sichten auf Schichten“ steht.

Das Mosaik Vieler

Kracauer ist es auch, der den Weg weist, wie der verborgenen Wirklichkeit nachzugehen ist.

Sie sei nicht mittels der Erkenntnis eines Einzelnen, in der Eindimensionalität einer geschlossenen Theorie, sondern als Mosaik Vieler zu erfassen: Nicht der Geistesblitz des Genies, sondern die insektenhafte Vielfalt in der Wahrnehmung Vieler  lässt Wirklichkeit erkennen, additiv, sukzessiv, perspektivendifferent, offen. Damit war für mich der Impuls gegeben, in einer Reihe von Alltagsimpressionen Hintergründe anzudeuten und den Bildern Texte zuzufügen, die Möglichkeitsräume eröffnen bzw. offerieren und damit eigene Emotionen, gedankliche Prozesse, persönliche Erinnerungen bei den unterschiedlichen Beschauern auslösen.

Das Bild eines Frühstückseies

Das Bild eines gekochten Frühstückseies ist allerdings für sich kaum geeignet, große Emotionen auszulösen. Es strahlt die gemütliche Stimmung eines Sonntagsmorgens aus. Vielleicht ist es – ökologisch korrekt – auf dem nahegelegenen Bauernhof gekauft: alles in Ordnung.

Nur kann sich bei dem Gedanken an die riesige Infrastruktur, die heute hinter unserem banalen Frühstücksei steht, ein Panorama nicht nur eines Bauernhofs, vielleicht auch einer Legebatterie eröffnen, sondern es entsteht das Bild, wie Wasser und Elektrizität das Frühstücksei ermöglichen: Wasseraufbereitungsanlage, Pumpen und Motoren zur Herstellung des Wasserdrucks, Wasserversorgungs- und -entsorgungsleitungen, die Wassergewinnungsanlagen an der Ruhr, Generatoren zur Erzeugung elektrischen Stroms, Kraftwerke, Hochspannungsleitungen, Umspannanlagen, Verteilnetze… und auch die einzelnen Anlagen haben ihre Geschichte, bis hin zum Lüner Kraftwerk, das über Schifffahrtskanäle auch mit kolumbianischer Kohle befeuert wird. Mit dem Gedanken an die globalen Zusammenhänge und die damit verbundene Ausbeutung tut sich eine Bodenlosigkeit unter der unreflektierten Banalität des Alltags auf, eine Botschaft durch Dinge.

Unverbrüchliche Zeugnisse von Liebe

Welche Geschichte mag hinter dem beschädigten Brückengitter stecken, an dem die unverbrüchlichen Zeugnisse von Liebe und Liebschaft in Gestalt von „Liebesschlössern“ hängen? Vandalismus? Ende einer Liebe und gewaltsame Beseitigung ihres Zeugnisses, weil die gemeinsame Sicherheit anfangs so groß war, dass die Schlüssel weggeworfen wurden? Oder ein gewaltsamer Eingriff aus Eifersucht, der Vorgängerin, des Nachgängers? Es ist nur ein kleiner umgebogener Draht im Bild, aber hinter ihm tut sich potentiell ein Abgrund auf. Er macht deutlich, wie begrenzt das scheinbar Wirkliche die Wirklichkeit abbildet, wie reich ein kleiner Haken an einer Brücke ist, unter der die Lippe gleichmütig dahin strömt.

Eine zweite Ebene

Oder das Bild einer Vortragsszene: eine schauende Menge. Ihnen wird etwas gezeigt; genauer: Ihnen wird vermittelt, wie etwas ist. Der Vorgang des Zeigens erfolgt ja immer als Interaktion. Einer ist der Zeigende, anderen wird etwas gezeigt. Die scheinbar banale Szene enthält damit auf einmal eine zweite Ebene, eine zweite „Schicht“, auf der ‚Zeigen‘, ‚Vermittlung‘, ‚Beibringen‘ oder – bei Politikern besonders beliebt – ‚Mitnehmen‘ problematisiert wird.

„Sichten auf Schichten“ ist ein Angebot, eine Offerte zum Sehen und Denken, zum Ausdenken von Möglichkeitsräumen, zur Reflexion des Standes sozialer Nachhaltigkeit, ein Anreiz, die eigenen Bilder des Alltags neu zu sehen und zu hinterfragen.

Die Ausstellung „Sichten auf Schichten“ endet am 5. Oktober, 19 Uhr, mit einer Finissage in St. Georg, bei der Prof. Dr. Barbara Welzel von der TU Dortmund einen Vortrag zu „Calvinismus und Bildersturm" hält.

 

Zurück zur Übersicht