Interviews & Artikel

"Die Kirche ist Teil der Gesellschaft"

Von Nadine Albach

Kirche ist zunächst ein abstrakter Begriff – der im Gespräch lebendig wird: Ulf Schlüter, Superintendent des Kirchenkreises Dortmund, erzählt im Interview, was Kirche für ihn bedeutet, wie sie den Herausforderungen der Gegenwart begegnen und was sie Menschen heute schenken kann.

 

Superintendent Ulf Schlüter

Warum arbeiten Sie für die Kirche – und würden Sie es überhaupt als Arbeit bezeichnen?

Das ist natürlich auch Arbeit, aber eine mit Überzeugung. Das hängt zusammen mit meiner eigenen Geschichte und dem Bild von Kirche, das in meiner Kindheit und Jugend gewachsen und stark von der Erfahrung der Gemeinschaft geprägt ist. Ich habe noch die „volkskirchliche“ Normalität erlebt: große Kindergottesdienste, Ferienfreizeiten, Jugendgruppen und viele Menschen, die sich engagiert haben. Mein Bild von Kirche ist immer auch verbunden mit dem Bild von konkreten Menschen: also Pfarrer, aber auch Jugendliche, die uns biblische Geschichten erzählt haben und eine Frau, die uns zum Kindergottesdienst gebracht hat. Kirche hängt für mich mit der Erfahrung von Gemeinschaft und sozialem Engagement zusammen – diese Verbindung prägt mich bis heute.

 

So etwas kann ja einfach eine positive Erinnerung bleiben – sie aber haben gesagt, ich mache das zu meinem Beruf. Warum?

Als Jugendlicher war ich so aktiv und engagiert in der Kirche, dass sich, auch inspiriert durch einen guten Religionsunterricht, irgendwann die Frage stellte, ob ich mich auch theoretisch damit auseinandersetze. Ich wollte dem auf die Spur kommen, was Kirche im Kern ist, wofür sie da ist, in welcher Tradition sie steht. Die Kirche hat einen ungeheuren Schatz – diese alten Geschichten vom Leben, davon, dass Menschen begeistert werden, dass sie füreinander da sind, dass sie heil werden. Dieser Schatz muss auch heute mit Leben gefüllt werden. Das Bedürfnis, mich als Teil der Kirche dafür einzusetzen, hat sich bei mir kurz vor dem Abitur und in den Jahren darauf verdichtet.

 

"Die Menschen wollen etwas Gutes erreichen"

 

Sie haben selbst lange ein Gemeindeleben geprägt – als Pfarrer der Kirchengemeinde in Asseln. Was war in dieser Zeit das Wichtigste?

Die Erfahrung, dass sehr unterschiedliche Leute, sowohl vom Alter her als auch von der sozialen Prägung und der familiären Grundhaltung, gemeinsam Kirchengemeinde gestalten. Sie haben ihre Energie eingebracht, um als Gemeinschaft zu leben und für andere etwas Positives zu leisten. Zu erleben, wie viele Ehrenamtliche und Freiwillige ihre Zeit einsetzen, um zum Beispiel Kindergottesdienste zu gestalten, oder Väter zu sehen, die jedes Jahr vor Weihnachten in den Wald fahren, 250 Bäume schlagen und dann zur Unterstützung einer Kindertageseinrichtung verkaufen – das sind Erfahrungen, die mich in den 19 Jahren getragen und geleitet haben. Ich habe gespürt, dass die Menschen miteinander etwas Gutes erreichen wollen.

 

Jetzt sind sie Superintendent des Kirchenkreises: Wie hat das Ihr Bild von Kirche verändert?

Die Kirche ist einerseits eine Gemeinschaft und eine spirituelle, geglaubte Größe - aber sie ist auch immer eine Organisation. Diese Sicht auf die Kirche hat sich als Superintendent intensiviert. Es gibt weiterhin einen spirituellen Teil, aber ein sehr großer Teil meiner Zeit und meiner Kraft fließt jetzt in die Steuerung dieser Organisation. Das ist nicht nur schlecht (lacht) – es hat etwas sehr ambivalentes. Organisationen sind eben immer auch fehlbar. Je intensiver der Blick auf die Organisation Kirche und die Menschen, die dort arbeiten, desto bescheidener kann man auch werden und sagen: Wir haben die gleichen Grenzen wie andere Organisationen. Wir haben Menschen, die besonders begeistert arbeiten – aber wir leben auch mit unseren eigenen Grenzen und Fehlern.

 

"Die Arbeit darf nicht zum Selbstzweck werden"

 

Ist es in einer Verwaltung also schwieriger, das ideelle Bild, das Sie am Anfang beschrieben haben, auch beizubehalten: Sie erleben die Gemeinschaft ja nicht mehr täglich.

Es ist abstrakter geworden. Aber ich bemühe mich, in den Verwaltungsabläufen, in denen ich mich permanent befinde, im Blick zu behalten, wofür das alles ist. Ich setze mich dafür ein, den Kirchenkreis und die Verwaltung als Dienstleister zu verstehen: Die Arbeit darf nicht zum Selbstzweck werden; sie dient dazu, dass an vielen Stellen in dieser Stadt lebendige Christengemeinden arbeiten können.

 

Was für ein Bild von Kirche wollen Sie denn nach außen transportieren?

Entscheidend ist, dass Menschen uns als zugewandt, hörbereit und sozial engagiert erleben. Dietrich Bonnhoeffer sprach von der Kirche für andere: Bei allen Fragen, die man an diese Aussage stellen kann, weist sie uns doch mindestens immer in die richtige Richtung. Wir müssen uns als Organisation fragen, was wir für die Menschen und mit den Menschen, die in unseren Städten leben, tun können.

 

Trotzdem sehen immer mehr Menschen die Kirche nicht mehr als Ansprechpartner. Was kann man dagegen tun?

Das Einzige, was hilft, ist, bei unserer Sache zu bleiben: Wir müssen für die Menschen da sein und uns unserem Auftrag gemäß engagieren. Marketing & Co. haben sicherlich ihren Wert, aber Werbung ist immer nur so gut wie das Produkt. Wir müssen also überzeugend arbeiten. Menschen sollen vor Ort, zum Beispiel in den Kirchengemeinden oder in den diakonischen Diensten, spüren, dass die Kirche sich wirklich engagiert, für Kinder, für Senioren, für Flüchtlinge. Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit – dass die Leute wahrnehmen, dass wir wach sind und tun, was irgendwie geht.

 

"Wir sind in unserem Glauben als Individuum gefragt"

 

Derzeit ist die fundamentalisierte Version des Islam stark in die Diskussion – und im Zuge dessen kann man kann den Eindruck gewinnen, dass einige Menschen sehr feste Regeln für Ihr Leben wünschen. Die evangelische Kirche hingegen überlässt dem Einzelnen viel Freiraum und auch Verantwortung. Wie kann die Kirche mit dieser Ambivalenz umgehen?

Ich glaube, Menschen, die das Bedürfnis nach starken Autoritäten und starren Regeln haben, werden wir keine Heimat geben können. Im Kern der Reformation ist angelegt, dass wir in unserem Glauben als Individuum gefragt sind. Im Ergebnis heißt das: Es gibt niemanden, der mir vorschreibt, was ich tun und glauben soll. Und da bin ich mit Überzeugung Protestant: Das möchte ich auch nicht haben, weder für mich noch für unsere Kirche. Menschen, die eher fundamentalistisch gestrickt sind und mit einfachen Wahrheiten leben wollen, werde ich nicht viel sagen können. Die Wirklichkeit ist komplex und auch das, was Christen im 21. Jahrhundert tun, ist komplex. Wir können nicht mehr zurück zu einem naiven, voraufgeklärten Glauben. Wir müssen unseren Glauben heute aufgeklärt, also auch der Vernunft gemäß, buchstabieren. Das ist kompliziert, aber Teil unserer guten Tradition.

 

Inwiefern muss die Kirche heute auch politisch sein?

Die Kirche ist Teil der Gesellschaft. Wir haben Zeiten erlebt, in denen die Kirche zu viel um sich gekreist ist und zu wenig nach ihrer Verantwortung für das Ganze gefragt hat. Früher hat sich die evangelische Kirche stark auf die politische Autorität bezogen definiert. Die Lehre daraus ist, dass wir uns heute als Teil des Gemeinwesens und als demokratischen Faktor innerhalb der Gesellschaft begreifen. Wir haben viel zu sagen – zum Beispiel in ethischen Fragen – und bereichern die Diskussion nicht mit einfachen, sondern differenzierten Antworten. Das ist unser Anspruch. Wir wissen nicht immer alles besser – aber wir haben Erfahrung und Kompetenz, die wir einbringen können.

 

Doppelgebot der Liebe

 

Was, glauben Sie, ist das Originäre, das die protestantische Kirche Menschen schenken kann?

Der Kern von allem ist das Doppelgebot der Liebe: die Erfahrung, dass Menschen so angenommen und geliebt werden, wie sie sind – und damit verbunden die Aufforderung, sich anderen liebevoll zuzuwenden.

 

Gibt es für Sie abschließend ein Bild, das Ihnen in den Kopf kommt, wenn Sie an Kirche denken?

Das Bild eines großen Festes in einer Gemeinde: Alle tragen etwas bei, man genießt gemeinsam, es geschieht etwas sehr Lebendiges. Da steckt viel drin von dem, wie ich mir Kirche vorstelle. Menschen müssen das Schöne, diese Gemeinschaft, miteinander spüren. Nietzsche hat ja einmal böse gesagt: Christen müssten erlöster aussehen. Er hatte nicht recht, aber er gibt einen wichtigen Hinweis: Ich finde wichtig, dass eine fröhliche Grundstimmung zwischen uns herrscht – wohlwissend, dass es natürlich Situationen gibt, wo das nicht passt. Aber im Grundsatz sollten wir diese Gewissheit von Hoffnung und Freude, Optimismus und Zuversicht in uns tragen.

 

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