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Das Evangelium - eine Krisengeschichte

Unterschiedlichsten Menschen begegnen, erkennen, was sie brauchen, da sein und reden – das ist für Pfarrer Matthias Mißfeldt Alltag: Er ist Leiter des Fachbereichs Seelsorge und Beratung und als Krankenhausseelsorger unterwegs. Im Gespräch erzählt er, was ihn motiviert, welches Bild von Kirche er im Herzen trägt und was er davon weitergeben kann.

 

 Pfarrer Matthias Mißfeldt

 

Sie begegnen bei Ihrer Arbeit als Krankenhausseelsorger sehr unterschiedlichen Menschen. Was für ein Bild von Kirche wollen Sie transportieren?

Das ist ganz unterschiedlich. Entscheidend ist die Fähigkeit zum sogenannten „Multi-Roling“: Ich muss immer im jeweiligen Kontakt die Rolle aushandeln und erspüren, die gefragt ist. Mal ist es der klassische Pastor, mal etwas therapeutisches, mal ein geselliger Gesprächspartner, mit dem man über den BVB reden kann. Oder es ist jemand, der gerade durch seine Fremdheit unheimlich vertraut ist, so dass man ihm erzählen kann, was man sonst niemandem erzählt. Paulus hat davon gesprochen, „allen alles zu werden“. Wer allen alles wird, wird aber mit niemandem identisch. Ich brauche immer auch die Freiheit, dass ich in der Rolle nicht vollständig aufgehe. Natürlich ist sie ein Teil von mir, aber eben nicht alles.

 

Tatsächlich haben Sie viele Rollen – Sie sind sogar so etwas wie ein Exot: Schließlich sind Sie nicht nur Pfarrer, sondern auch Soldat. In ihrer Freizeit leiten Sie als Oberstleutnant der Reserve das Kreisverbindungskommando der Bundeswehr in Dortmund und beraten in der zivil-militärischen Zusammenarbeit – zum Beispiel bei der Entschärfung der Zehn-Zentner-Bombe im Klinikviertel 2012. Wie passt das zusammen, Kirche und Militär?

Für mich passt das sehr gut zusammen. Militär und Kirche sind zwei Dimensionen unserer Gesellschaft. Als ich 1978 in die Bundeswehr eingetreten bin, habe ich mich bewusst für den Friedensdienst mit Waffe entschieden. Ich empfinde es als meine Pflicht als Christ, andere Menschen vor Gewalt zu schützen. Das ist für mich nach wie vor aktuell – ganz besonders in der derzeitigen Lage.

 

Lebensgeschichten mit dem Neuen Testament verbinden

 

Und was treibt Sie bei Ihrer Arbeit in der Kirche an?

Ich glaube, dass das Evangelium ein sehr realistisches Selbst- und Weltverständnis bietet. Wenn man so will, ist es eine Krisengeschichte, die zeigt, was an Wachstums- und Lösungspotential in Extremsituationen steckt. Insofern ist es für mich interessant, genau diesem Weg zu folgen: die Lebensgeschichten von Menschen mit den Erzählungen aus dem Neuen Testament zu verbinden und zu verschränken. Wenn Leute dann sagen: „Wow, wusste ich gar nicht, dass sowas Tolles in der Bibel steht“, finde ich das klasse.

 

Haben Sie schon immer diese Verbindungen gesehen – wenn Sie zum Beispiel an Ihre eigene Glaubenssozialisation denken?

Ich bin in einem Pfarrhaus aufgewachsen, hatte also schon früh eine enge Bindung zur Kirche. Diese Verbindungen waren mir früher sicher nicht so bewusst, aber die Geschichten haben mich immer fasziniert. Ich glaube, das ist auch die Stärke der Bibel: Dass sie über diese Erzählzusammenhänge Selbst-, Welt- und Gottesverständnisse von Menschen über die Jahrtausende hinweg in die Gegenwart hinein transportiert – ein Riesenschatz!

 

Gelingt es Ihnen im Alltag immer, Ihrem Anspruch gerecht zu werden und den Menschen diese Verbindungen zu zeigen?

Manchmal gelingt das eher implizit – das kann man nicht erzwingen. Aber trotzdem ist es wichtig, hermeneutisch diesen Hintergrund zu haben. Theologen sind eigentlich Textwissenschaftler. Und Seelsorge ist, wenn Sie so wollen, die biblische Textwissenschaft der Lebensgeschichte. Indem Menschen ihre Geschichte neu erzählen und vielleicht mit einer anderen ins Gespräch bringen, passiert eine ganze Menge: Das Selbstverständnis ändert sich und im besten Fall fühlen die Menschen sich getröstet.

 

Im Zweifelsfall gehe ich auch wieder

 

Ist jeder Mensch für ein solches Gespräch mit Ihnen offen – insbesondere, wenn Sie sich als Mann der Kirche vorstellen?

Ich erlebe die ganze Bandbreite. Wenn ich ein Krankenzimmer betrete, herrscht erst einmal eine hohe Verunsicherung. Es muss ausgehandelt werden, ob der Kontakt zustande kommt oder nicht. Gerade im Krankenhaus hat die Tatsache, dass wir abgelehnt werden können, aber eine hohe Qualität: Weder Krankenschwester noch Arzt kann man wegschicken – den Pfarrer schon. Oft ist es so, dass die Leute genau in dem Moment, in dem ich mich verabschiede, sagen, dass ich doch noch ein bisschen bleiben soll. Also dann, wenn klar ist, dass ich im Zweifelsfall auch wieder gehen würde.

 

Ist es nicht schwierig, mit Fremden quasi aus dem Nichts ins Gespräch zu kommen?

Gerade das Stichwort Fremdheit ist bei der Seelsorge ein unheimlicher Öffner. Die Menschen wissen vielleicht nicht genau, wer der Pfarrer eigentlich ist – aber er ist weder Arzt noch Schwester, also kein Teil des Systems. Auch die Ehrenamtlichen sind oft überrascht über die Offenheit der Menschen. Das empfinden viele als wahnsinniges Geschenk. Man erfährt unglaubliche Geschichten.

 

Was macht das umgekehrt mit Ihnen – gibt es Ihrem Leben eine starke Sinnhaftigkeit?

Ich genieße eher den Moment des Kontakts. Wenn es gelingt, dass Menschen anfangen zu erzählen und man miteinander in einen Fluss kommt, ist das toll. Dann kann es geschehen, dass die Situation offen wird für Gott, für Transparenz der Transzendenz.

 

Die meisten möchten gesegnet werden

 

Aber Sie gehen nicht mit dem Anspruch in ein Gespräch, eine bestimmte Botschaft zu platzieren?

Das würde nicht funktionieren. Seelsorge ist nicht missionarisch, jedenfalls nicht explizit. Allerdings glaube ich, dass wir vor dem Hintergrund unserer Geschichten so etwas wie einen Deutungshorizont mitbringen. Bis hin zum Ritual, das die Zuwendung Gottes symbolisieren kann. Früher wurde das von mir immer unterschätzt – aber mittlerweile frage ich bei jedem Krankenbesuch: „Möchten Sie persönlich gesegnet werden?“ Die meisten Menschen möchten das tatsächlich.

 

Wie begegnen Sie Menschen anderer Konfessionen?

Wichtig ist auch da, zu gucken, was nötig und gewünscht ist, das zu respektieren und zu überlegen, was ich davon herstellen kann.

 

Es ist also sehr viel Offenheit von Ihrer Seite nötig, um erst einmal zu sehen, in welcher Situation der Mensch gerade ist?

Genau, es geht darum, im Kontakt zu gucken, wo ich den anderen abhole und sich prozessorientiert gemeinsam auf den Weg zu machen.

 

Die eigene Identität festigen

 

Was glauben Sie, gibt ein solches Gespräch den Menschen im Idealfall?

Wenn Menschen ihre Lebensgeschichte gerade in einer Krise noch einmal neu erzählen, trägt das dazu bei, die eigene Identität zu festigen. Das ist ein immenser therapeutischer Effekt, den Seelsorge hat, weil sie die Lebensgeschichte eines Menschen noch einmal unter den Aspekten Transzendenz und Immanenz ansieht: War es das jetzt, was hinterlasse ich, was erhoffe ich mir vielleicht über den Tod hinaus?                                     

 

Können Sie auch Mut machen?

Mut und Trost – das sind Sachen, die sich einstellen, das kann man nicht erzwingen. Wichtig ist, dass Menschen das annehmen können und das Gefühl haben: Für mich stimmt es. Auf der Intensivstation hatte ich zum Beispiel ein Ehepaar: Er war schwer krank. Sie hielt ihn fest und wollte ihn bei sich behalten – aber es ging nicht, weil die Krankheit zu stark war. Wir haben gemeinsam über schöne Dinge gesprochen und die beiden haben sich daran erinnert, wie sie ihren Hund gekauft haben, der ihnen viel bedeutet hat. In dem Moment, als sie erzählt hat, wie der Hund als Welpe bei ihnen ankam, ist er gestorben. Das mag für andere banal klingen, für die beiden war es das nicht. Wir haben nicht explizit über Gott gesprochen, aber trotzdem glaube ich, dass etwas sehr Spirituelles da war. Der Hund war etwas Positives, dass die beiden als Paar verbunden hat – und in so einem Moment von Erfüllung kann ich mich vielleicht besser verabschieden und loslassen, als wenn ich denke, ich muss eigentlich besser dableiben.

 

Energie, Trauer, Schmerz

 

Geraten Sie auch mal an Ihre Grenzen?

Natürlich gibt es Situationen, die mich berühren. Letztens hatten wir ein totes Kind. Die Mutter wollte es noch einmal sehen– 39. Woche, es war wunderschön anzusehen, aber leider tot. Das ist natürlich schrecklich traurig.

 

Haben Sie durch Ihre Erfahrungen ein bestimmtes Bild, das Sie mit Kirche verbinden?

Für mich ist meine Arbeit im Krankenhaus wichtig. Wir veranstalten einmal im Quartal Erinnerungsgottesdienste. Dabei zeige ich eine Präsentation mit allen Namen der Verstorbenen, die viele Hinterbliebene unbedingt mitnehmen möchten. Dieser Gottesdienst und das, was da im Kontakt mit den Menschen aufkommt an Energie, an Trauer und Schmerz - das ist für mich Zentrum dessen, wo ich die Kirche sehe.

 

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